Die Extended Mind-These

Holger Lyre und Sven Walter, 2008

Die Kognitions- und Neurowissenschaften erleben spätestens seit den späten neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen enormen programmatischen und paradigmatischen Richtungsschub, der sich in den Schlagworten ‚Embodiment‘, ‚Situated Cognition‘ und ‚Dynamizismus‘ manifestiert. Im Kern dieser Entwicklung steht die Einsicht, dass sich die in einem kognitiven System ablaufenden Prozesse anders als von der klassischen KI im Sinne der GOFAI (‚good old fashioned artificial intelligence‘) angenommen nicht losgelöst von den körperlichen Gegebenheiten des Systems, seiner situativen Einbettung in eine Umgebung und seine dynamische Interaktion mit der Umgebung verstehen lassen. Insofern kognitive Prozesse sich dieser neuen Strömung zufolge nicht einfach auf einer abstrakten, rein informationsverarbeitenden Ebene charakterisierbar sind, sondern wesentlich von der jeweils konkret gegebenen körperlichen und situativen Einbettung des Systems abhängen, verschwimmt nach und nach auch die intuitiv einleuchtende Grenzziehung zwischen dem ‚Innen‘ und dem ‚Außen‘ eines kognitiven Systems, zwischen dem, was sich im ‚Geist‘ abspielt, und dem, was sich vermeintlich außerhalb der Grenzen des Geistes im Körper und der Umwelt abspielt. Aus diesem Grund haben in der einschlägigen philosophischen Debatte anknüpfend an die Strömungen des Embodiment, der Situated Cognition und des Dynamizismus einige Autoren dafür argumentiert, dass wir unsere klassischen Auffassungen darüber, was kognitive Prozesse sind, und wo sie stattfinden, revidieren müssen: wenn die Natur kognitiver Prozesse wesentlich konstituiert ist durch im Körper oder in der Umwelt eines kognitiven Systems ablaufende Prozesse, dann sind kognitive Prozesse nicht nur auf den lokalen Verarbeitungsapparat, die neuronale Maschinerie, eines kognitiven Systems beschränkt, sondern erstrecken sich über die traditionell gedachte Grenze hinaus in die Umgebung, in externe kognitive Werkzeuge und in soziale Gemeinschaften hinein. Diese ‚Extended Mind Thesis‘ (EMT) wurde vor allem durch einen Aufsatz von Andy Clark und David Chalmers (1998) prominent gemacht und seither von Clark in einer Reihe von Arbeiten weiter verteidigt.

Inzwischen finden sich in der angelsächsischen Debatte noch eine Reihe weiterer prominenter Anhänger der EMT wie etwa Susan Hurley, Richard Menary, Mark Rowlands, Michael Wheeler und Robert Wilson, aber auch die Kritiker melden sich zu Wort, und es hat sich sowohl innerhalb der empirischen Kognitions- und Neurowissenschaften als auch in der Philosophie des Geistes eine intensive und fruchtbare Debatte über Geltung und Tragweite der EMT entwickelt. Demgegenüber ist der EMT in der entsprechenden deutschsprachigen Forschungslandschaft bislang kaum Beachtung geschenkt worden, und zwar weder von philosophischer Seite noch aus der Perspektive der empirisch arbeitenden Kognitions- und Neurowissenschaften. Vorrangiges Ziel der beantragten Tagung ist es, diese Lücke zu schließen, indem einerseits das Bewusstsein für eine philosophische Auseinandersetzung mit der EMT auch im deutschsprachigen Raum geschärft werden soll, und andererseits in enger Zusammenarbeit mit Kognitions- und Neurowissenschaftlern geklärt werden soll, inwieweit in deren alltäglicher Arbeits- und Forschungspraxis die EMT implizit vorausgesetzt oder gar aktiv betrieben wird.

Stand der derzeitigen Debatte

Die EMT wurde durch einen gleichnamigen Aufsatz von Andy Clark und David Chalmers (1998) prominent gemacht, verwandte Überlegungen finden sich aber auch unter den Schlagwörtern ‚wide computationalism‘ bei Robert Wilson (1994), ‚vehicle externalism‘ bei Susan Hurley (1998) oder ‚environmentalism‘ bei Mark Rowlands (1999). Die EMT ist als Erweiterungsthese des Kognitiven anzusehen, ihre Motivation bezieht sie aus den aktuellen Strömungen in den Kognitions- und Neurowissenschaften, insbesondere dem Embodiment, der Situated Cognition und dem Dynamizismus. Der EMT zufolge erstreckt sich das kognitive System über die traditionellen Systemgrenzen des neuronalen Apparats oder der Körpergrenze hinaus in die den kognitiven Agenten situativ einbettende Umgebung. Dies ist vordergründig plausibel, insofern etwa die Aufrechterhaltung kognitiver Prozesse und Aktivität in den konkreten Modellierungen und Verständnisweisen im Zuge von Embodied und Situated Cognition nur unter Einbeziehung relevanter Teile der Umgebung, mit denen das kognitive System dynamisch verkoppelt ist, erfolgt. Neben Andy Clark, der in jüngerer Zeit durch seine zahlreichen Arbeiten erheblich zur Verbreitung der These beigetragen hat (siehe insbesondere Clark 2001, 2003, 2005, 2007, 2008), zählen zu den weiteren bekannten Vertretern der EMT auch Susan Hurley (1998, in Vorbereitung), Richard Menary (2007; in Vorbereitung), Mark Rowlands (1999, 2006), Michael Wheeler (2005) und Robert Wilson (2004).

Im Zusammenhang mit der Diskussion um die EMT, die in jüngerer Zeit auch vermehrt kritisch eingesetzt hat, stellt sich unmittelbar die Frage nach den Individuationskriterien des Kognitiven, denn nur dadurch kann plausibel gemacht werden, warum man einen externen Prozess überhaupt als kognitiven Prozess ansehen sollte. Als wichtiges Kriterium wird hierbei das bereits im Clark und Chalmers-Paper enthaltene ‚Äquivalenzprinzip‘ (parity principle) angesehen. Die Autoren sagen dort (Clark und Chalmers 1998, 8): „If, as we confront some task, a part of the world functions as a process which, were it to go on in the head, we would have no hesitation in accepting as part of the cognitive process, then that part of the world is (for that time) part of the cognitive process.” Das Äquivalenzprinzip kann also zur Stützung der EMT herangezogen werden, indem es eine funktionalistische Individuation kognitiver Prozesse vorschlägt und in diesem Funktionalismus bereits die Annahme eingebaut ist, dass es für das Vorliegen eines kognitiven Prozesses gleichgültig ist, wo sich die ihn realisierenden Prozesse abspielen und wie sie materiell konstituiert sind. Ob eine funktionalistische Konzeption kognitiver Prozesse jedoch adäquat ist, und wie sie genau auszubuchstabieren wäre, bleiben Fragen, die von den Anhängern der EMT erst noch zu beantworten sind.

Vor allem Adams und Aizawa (2008) haben sich als vehemente Kritiker der EMT hervorgetan. Sie unterstellen den EMT-Vertretern eine ‚coupling-constitution fallacy‘, also einen Fehlschluss von einer rein kausalen Kopplung kognitiver Systeme mit gewissen externen Komponenten auf die These, dass diese externen Komponenten eine konstitutive Rolle für den kognitiven Charakter des Systems spielen. Dass die Anhänger der EMT den Unterschied zwischen kausal und konstitutiv übersehen, so Adams und Aizawa, liegt unter anderem auch daran, dass sie keine tragfähige Theorie des ‚mark of the cognitive‘ anzubieten haben, d.h. keine Theorie darüber, was es eigentlich heißt, dass ein Prozess ein kognitiver Prozess ist (s.o.). Macht man sich hingegen klar, was wir meinen, wenn wir von einem kognitiven Prozess sprechen, so ihre Kritik an der EMT weiter, wird unmittelbar augenfällig, dass es so etwas wie Extended Cognition beim momentanen Stand der Technik und der Entwicklung nicht gibt. Adams und Aizawa zufolge müssen kognitive Prozesse nämlich offensichtlich von intrinsischen mentalen Gehalten und Bedeutungen begleitet sein, die es, so ihre These, derzeit nur in ‚natürlichen Gehirnen‘ und nicht außerhalb derselben gibt. Ob sich diese Kritik am Ende als desaströs für die EMT erweist, hängt unter anderem davon ab, was sich aus Sicht der Philosophie des Geistes zur Frage nach intrinsischer oder ‚originärer‘ Intentionalität sagen lässt, vor allem aber auch davon, ob man sich als Anhänger der EMT überhaupt darauf festlegen lassen muss, kognitive Prozesse über ihre mentalen Gehalte zu individuieren. Aus diesem Grund haben Anhänger der EMT vermehrt begonnen, nach alternativen, unabhängigen Individuationskriterien für kognitive Prozesse zu suchen.

Unabhängig von diesen primär begrifflichen Fragen lässt sich die EMT jedoch, wie ein anderer Kritiker, Robert Rupert (2004), einräumt, durchaus auch als empirische und nicht nur als philosophisch-metaphysische These verstehen. Die Überzeugungskraft und Plausibilität der EMT hängt dann von dem faktischen Voranschreiten der Kognitions- und Neurowissenschaften ab. Falls sich herausstellen sollte, dass es für die gelingende und erfolgreiche Modellbildung in diesen Wissenschaften unerlässlich ist, kognitive Systeme als erweitert gegenüber traditionelleren Ansätzen anzusehen, so fände EMT auf diesem Wege eine empirische Bestätigung.

Mit der EMT ist noch ein weiterer Diskussionsstrang verbunden, der ebenfalls bereits im 1998er Clark und Chalmers-Paper angedeutet ist. Die Autoren kreieren dort das Schlagwort des ‚aktiven Externalismus‘. Unter Externalismus versteht man in der Philosophie des Geistes eine Position, die den Gehalt mentaler Zustände und Repräsentationen nicht nur an system-interne, sondern auch an externe Komponenten und Faktoren bindet. Dies wurde vor allem im Zusammenhang mit Putnams Überlegungen in ‚The Meaning of “Meaning“‘ (1975) im Anschluss an eine kausale Theorie der Bedeutung deutlich, wonach etwa die Bedeutungen von Ausdrücken für natürliche Arten von der essentiellen Beschaffenheit der Referenzobjekte abhängen. Wer immer an Wasser denkt, bezieht sich in unserer Welt auf H2O. In einer anderen Welt, in der Wasser seiner Natur nach etwas anderes ist, handeln Wassergedanken aber von dieser anderen Substanz. Und dies gilt sogar für ein Zwillingserde-Szenario, bei dem die Inhaber von Wasser-Gedanken in beiden Welten behavioral und funktional äquivalent sind. Der Putnamsche Externalismus ist insofern ein passiver Externalismus, als die externe Gehaltsfixierung dem kognitiven System rein passiv zukommt (im doppelten Sinne: ohne weiteres Zutun des Systems und ohne Verhaltensrelevanz für das System). Ähnliches gilt für die beiden weiteren bekannten Varianten des historischen Externalismus (im Zuge der Teleosemantik) und des sozialen Externalismus (im Zuge der Gebrauchstheorie). Die EMT legt demgegenüber einen ganz eigenen Typus von Gehalts-Externalismus nahe, bei dem jedoch die externen Komponenten, die zur Erweiterung des kognitiven Systems beitragen, durchaus Verhaltensrelevanz besitzen (wie Clark und Chalmers in einem Zwillingserde-Gedankenexperiment zeigen). Es handelt sich daher um einen aktiven Externalismus. Da die Bezeichnungen ‚Extended Mind‘ und ‚aktiver Externalismus‘ gelegentlich austauschbar verwendet werden, hat Susan Hurley (1998) zu Recht darauf hingewiesen, dass genauer zwischen einem Vehikel- und einem Gehalts-Externalismus unterschieden werden muss.

In verschiedenen Folgearbeiten hat Hurley (2001, in Vorbereitung) die Implikationen des aktiven Externalismus weiter verfolgt. Insbesondere verteidigt sie gemeinsam mit Alva Noë einen aktiven Externalismus phänomenaler Gehalte im Zusammenhang mit Ideen im Umfeld des Enaktivismus, also der These, dass Wahrnehmen und Handeln begrifflich eng miteinander verknüpft sind (Hurley und Noë 2003). Ein weiterer nennenswerter Autor im Zusammenhang mit aktivem Gehalts-Externalismus ist Mark Rowlands (2003, 2006), ebenso auch allerjüngst wieder Chalmers (2008). Dennoch steht die hierdurch angeregte bedeutungstheoretische Debatte noch sehr am Anfang. Fragen nach dem Zusammenhang von aktivem Externalismus und mentaler Verursachung, Individualismus, kognitiver Agentenschaft und dem generellen Verhältnis von aktivem und passivem Externalismus bieten derzeit noch ein weites Feld.

Literatur